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Programm

Ich bin mir selber fremd geworden

Das Frauenzuchthaus Hoheneck (bei Stollberg/Sachsen) ist zum Sinnbild politischer Verfolgung in der DDR geworden: mit drakonischen, menschenrechtswidrigen Strafmaßnahmen, unwürdigen Haftbedingungen und Zwangsarbeit in der Textilindustrie versuchte der DDR-Machtapparat in vielen tausend Fällen, politische Gegnerinnen zu brechen - der häufigste „Straftatbestand“: geplante oder versuchte Republikflucht. Eine außergewöhnliche Performance aus Zeitgenössischer Musik, Choreografie und Licht, konzipiert vom MusikTheater-Kollektiv Schatz & Schande und dem Ensemble Neue Kammer, sucht die künstlerische Auseinandersetzung mit diesen Verbrechen. 

 

Unter dem Titel „Ich bin mir selber fremd geworden“ rücken Gedichte ins Zentrum, die von inhaftierten Frauen während ihrer Zeit in Hoheneck verfasst und 2024 vom Komponisten Philipp Rücker vertont wurden. In vielfältiger Gestalt aus Stimmen und Streichinstrumenten treten die Gedichte in Dialog mit einer Lichtinstallation, die die Farblosigkeit, Enge und Monotonie des vergitterten Alltags plastisch werden lässt: Wie in den Grautönen eines Schwarz-Weiß-Filmes ragt ein Gesicht, eine Hand, eine Silhouette schemenhaft hervor; gleichzeitig werden Licht und Schatten zu repressiven Entscheidern über Nähe und Distanz, Berührung und Abschottung der Akteur*innen, die sich zwischen Nähmaschinen, Mauern und Züchtigung ihre innere Freiheit zu bewahren versuchen. 

 

Was entsteht, ist eine gewagte, neuartige Form der Erinnerungskultur: Die Künstler*innen machen die beklemmende Gefangenschaft in Hoheneck mit Augen und Ohren greifbar, vermitteln eindringlich eine Ahnung von Ohnmacht und Gewalt - und errichten den inhaftierten Frauen aus ihren eigenen Worten ein machtvolles Denkmal. 

Gedichte

Die fett gedruckten Textzeilen werden in den Kompositionen verwendet. Wir haben uns aus Respekt vor den Autorinnen entschieden, die Gedichte hier in ihrer originalen Form zu verwenden.

Ich möchte

Traute Mühltaler, Hoheneck 1951

Ich möchte in den Frühling wandern

Am Bache Veilchen pflückend knien,

mich an dem Spiel der Fische freuen

und meiner Gegenwart entfliehn.

Ich möchte mit den Schwalben fliegen,

ein Nestchen für die Zukunft bauen,

mich in den Blütenzweigen wiegen

und singend in die Welt dreinschauen.

Ich möchte in des Waldes Stille

die Hände falten zum Gebet -

den Keim des Hasses niedertreten

Bevor er reift und es zu spät.

Ich möchte hoch im Sattel sitzen,

den Tag durchreiten und die Nacht,

bis inn’ren Frieden ich gefunden

und meine Seele jauchzt: Vollbracht.

Ich möchte in den Bergen wohnen,

dem Himmel und der Sonne nah -

verzeihen und vergessen lernen,

das, was an unrecht mir geschah.

Ich möchte, dass des Meeres Wellen

Fortgetragen die Zerrissenheit,

die meiner Seele sich bemächtigt

und löschen allen Staub der Zeit.

 

Ich möchte, dass der Strom der Tränen

mahnt bis in alle Ewigkeit,

dass er zerstört die Racheschwüre

und fordert die Besonnenheit.

Ich möchte aus dem Traum erwachen

bevor mich birgt ein Totenschrein.

Ich möchte wieder Freiheit atmen,

um einmal wieder Mensch zu sein.

Rundgang im Waldheim

Der Himmel verhangen, nach Schnee riecht die Luft,

nur blasse Gesichter in graugrüner Kluft;

und ob auch bei Schreiten kein Mensch zu dir lacht:

du brauchst nichts zu fürchten, du wirst ja bewacht!

Klipp - klapp - klipp - klapp Holz auf Stein,

so klingt es noch lang im Dämmerschein.

 

Ein schepperndes laufen erfüllt unseren Raum,

du gehst in Gedanken, du gehst wie im Traum.

Und heimlich verweilst du, weil niemand es weiß,

daheim bei den Lieben im häuslichen Kreis.

Klipp - klapp - klipp - klapp Holz auf Stein,

mit deiner Sehnsucht bist du allein.

Ein Raunen geht um und hebt dich hinaus,

bald hat es ein Ende.., bald bist du zu Haus.

Und leichter, beschwingter wird mancher Gang,

und hoffend klingt es die Wege entlang:

klipp - klapp - klipp - klapp Holz auf Stein,

bald hat es ein Ende,... bald bist du daheim.

Vergebens das Warten, vergebens Gebet,

dein Hoffen hinweg, hat der Wind es verweht?

Leer ist dein Auge und leblos dein Blick,

nur dumpf hallt’s vom Gemäuer zurück:

Klipp - klapp - klipp - klapp Holz auf Stein,

das prägt sich tief in die Seele ein.

Edeltraut Eckert

Die Gedanken

So trüb’ sind die Gedanken,

die meinen Daseinskreis durchziehen,

dass ich die augen schließen möchte

um vor dem eigenen Ich zu fliehen.

Ich bin mir selber fremd geworden!

Was schaut mich da im Spiegel an?

Zwei Augen - hilflos, matt und müde -

Ein Mensch, der nicht mehr lachen kann.

In jenen Zügen steht geschrieben:

Verachtung, all das leid der Zeit -

Verzweiflung - quälendes Verzichten -

spurlos der Jugend Heiterkeit.

Kein Wollen gibt dem Dasein Inhalt,

des Geistes Kraft gebrochen liegt,

und über Selbstbewusstsein,

Stolz und Haltung

hat fremde Willenskraft gesiegt.

So seh’ ich nackt, zerrissen meine Seele

In Zwang und Demut eingehüllt.

Ich möchte schreien und Muss schweigen.

Ist es schon Hass, was mich erfüllt?

Traute Mühltaler

Grüß mir mein Kind

Weh’, weh’ Wind

grüß mir mein Kind

fass es beim Zöpfchen

zupf es am Röckchen

sag sie ist weit von mir

wäre so gern bei ihr.

Weh’, weh’ Wind

grüß mir mein Kind

fange mein Bübchen

küss ihm die Grübchen

sag ich bin so allein

möchte so gern bei ihm sein.

Weh’, weh’ Wind

grüß mir mein Kind

Käthe Kirchner

The Silver Swan

Der Silberschwan, der lebend nie gesungen,

entlockte sterbend seiner Kehle einen Laut.

 

Die Brust sank in das Schilf am Ufer -

So sang zum ersten Mal er und nie mehr:

 

Lebt wohl, ihr Freuden, Tod, oh komm und schließe meine Augen;

Mehr Gänse gibt es jetzt als Schwäne, mehr Narren auf der Welt als Weise.

Orlando Gibbons, 1583 - 1625

My Mind to me a Kingdom is

William Byrd, 1540 - 1623

Mein Geist ist mir ein Königreich:

So vollkommene Freude finde ich darin

Dass sie alle andere Seligkeit übertrifft

Die Gott oder die Natur zugewiesen hat.

Obwohl ich vieles will, wonach sich die meisten sehnen,

So verbietet doch mein Geist zu begehren.

Draw on Sweet Night

John Wylbie, 1574 - 1638

Komm, süße Nacht, du Freundin aller Sorgen,

die aus schmerzvoller Melancholie erstehen.

Mein Leben entbehrt jeden Trostes,

darum widme ich es ganz Dir.

 

Süße Nacht, komm!

Mein Gram, den Schatten und der Dunkelheit erzählt, wird so gelindert.

Und während Du alles in Stille hüllst,

ist für mich die beste Zeit zu klagen.

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